Estlands schönstes VersteckDie Sommerinsel

©Adrienne Pitts
©Adrienne Pitts

Auf Muhu sagt man „Muhune haalestumine“. Das ist schwer zu übersetzen und noch viel schwieriger auszusprechen. Es ist das Salzige, Windige, das die Esten so lieben, wenn sie auf der Insel sind, verbunden mit dem Gefühl von zu Hause. Nur 1900 Menschen leben auf diesem kleinen Felsen an der estnischen Küste. Sie schützen mit aller Macht ihre einzigartige Identität und Traditionen, die während jahrhundertelanger schwedischer und sowjetischer Herrschaft entstanden. Der Sommer – wenn sich die Sonne in der Ostsee spiegelt und die Wälder und Wiesen voller Wildblumen sind – ist die schönste Jahreszeit. Aber auch im Herbst kann man das ganz spezielle „Muhune haalestumine“ noch spüren.

Wein machen, Wein trinken

"Zuerst waren die Inselbewohner etwas überrascht", erzählt Peke Eloranta und öffnet eine Flasche Sekt. "Aber mittlerweile sind wir solche Reaktionen gewohnt." Das von ihm und seiner Frau Ingrid geführte Gasthaus und Restaurant beherbergt auch Muhus außergewöhnlichstes Unternehmen: das nördlichste Weingut Europas. "Das ist alles von Ingrids Mutter", sagt er und zeigt auf die rote Villa hinter sich, wo "Muhu ist großartig" an der Wand geschrieben steht. "Eines Abends saß ich auf der Treppe und schaute auf die leeren Felder mit einem Glas Wein in der Hand. Es tat mir so leid, dass dort nichts wuchs, also dachte ich: ,Warum machen wir eigentlich keinen Wein?'." Er vertiefte sich ins Thema, gründete eine Crowdfunding-Kampagne und pflanzte seine ersten Reben im Jahr 2009. Jetzt hat er 800, die in sauberen Reihen Richtung Wald stehen. Weiter unten leuchtet das Meer. "Wir lernen niemals aus", sagt Peke und verspricht: "Wenn Sie in fünf Jahren zurückkehren, werden die Reben blühen!"

Die meisten Besucher, die herkommen, sind jedoch weniger am Weinbau interessiert als am Trinken der feinen Tropfen. Im Sommer organisiert das Paar auf dem Rasen neben den Weinstöcken regelmäßig Dinner. Dann sitzen die Gäste an einem langen Tisch unter Girlanden aus Lichtern und Fischernetzen. Wenn die Sonne hinter den Bäumen untergeht, wird der Höhepunkt serviert: Lamm, das den ganzen Tag über einem offenen Feuer hing. "Ich merkte, dass dieser Ort etwas Neues brauchte", sagt Peke. "Wir haben kein Landhaus oder Schloss, sondern einfach einen Bauernhof. Wir sind entspannt und sorgen uns nicht um die Etikette. Aber das Essen und der Wein sind von höchster Qualität." Diese unprätentiöse Einstellung passt perfekt zum Leben auf dieser Insel.

→ Ein köstliches Vier-Gänge-Menü bei Peke und Ingrid kostet ca. 40€ (veinitalu.ee/farm-winery).

Respektieren Sie Traditionen

"Ich habe eine alte Seele", sagt Martin Kivisoo, als er in seine Kutsche steigt. "Ich glaube, dass ich früher schon einmal auf dieser Erde gelebt habe." Er zieht für einen kurzen Moment die Zügel an und sein Pferd beginnt zu traben. Die Kutsche ruckelt über einen Waldweg hinterher. Martins Hauptaufgabe ist es, sich um seinen Hof, seine Kühe und seine Pferde zu kümmern, die die Felder um sein Haus herum durchstreifen. "Zu Sowjetzeiten gab es ein Gesetz, nach dem man kein Pferd haben durfte, weil man dann ein Kapitalist war", sagt er und duckt sich vor den Zweigen einer Esche. "Alle haben sich an diesen Umstand gewöhnt, aber ich wollte immer meine eigenen Tiere haben." Heute besitzt er 240 Pferde, sein Hof Tihuse, auf dem er auch Gästezimmer anbietet, ist einer der größten in Estland.

Martins Interesse an der Erhaltung der Inselkultur geht weit über die Sowjetzeit hinaus. "Seit mehr als 3000 Jahren leben Menschen auf Muhu", erzählt er. "Es gibt 65 Stätten alter Kulturen, die noch heute genutzt werden." Sein Wissen über Waldvölker gibt er auf dem "Ancient Culture Trail" weiter, den er selbst ins Leben rief. Entlang verschiedener Stationen werden heidnischer Glaube, Rituale, alte Medizin und Zeremonien von ihm anschaulich präsentiert. "Vor dem Christentum glaubten die Menschen, dass Feen die Energie dieser Orte bestimmen", sagt Herr Kivisoo, steigt aus dem Wagen, läuft zu einem Kalksteinfelsen und holt etwas Hafer aus seiner Tasche. "Wenn unsere Vorfahren Straßen, Steinmauern oder Häuser bauten, mussten sie der Straßenfee, der Feldfee oder der Hausfee ein Opfer bringen." Und dann führt er vor seinen Besuchern eine ausgiebige Zeremonie durch, in der er das Getreide opfert - als Dankeschön an die Elfen. Dabei legt er den Hafer in einen mit Regen gefüllten Hohlraum im Felsbrocken, wo bereits etwa 30 Goldmünzen liegen. Es ist ein beliebter Ort der Inselbewohner. "Einige gehen am Sonntag in die Kirche, andere zu dem Felsen." Auf dem Rückweg durch das Grasland flattert ein großer kupferfarbener Schmetterling vorbei, ein Fuchs bellt aus den Büschen heraus. "Heute Morgen sind die grauen Wolken verschwunden und der Himmel ist strahlend blau", sagt Martin mit einem Augenzwinkern. "Die Elfen sind froh, dass wir gekommen sind."

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Ein köstliches Festmahl

Albert Veenendaal steht auf den Fliesen der Küche von "Nami Namaste" und bindet ein Seil an ein dickes Stück Rindfleisch aus lokaler Zucht. Von der Tür aus starrt sein Hund Flynn das Fleisch gierig an. "Wir Holländer sind ein Handelsvolk", sagt der Koch. "Wir streben immer nach dem besten Preis. Die Leute auf Muhu bevorzugen lieber etwas weniger Fleisch, dafür aber welches von bester Qualität."

Albert ist seit zehn Jahren Chefkoch im "Nami Namaste" und lebt in Tallinn. Jeden Sommer kommt er mit Besitzerin Sikke Sumari nach Muhu, um die besten lokalen Rezepte aus den besten lokalen Zutaten herzustellen. "Ich habe nie verstanden, warum die Leute am Freitagabend aus der Stadt flohen, stundenlang vor der Fähre anstanden, einen Tag hier verbrachten und wieder zurückgingen", lacht er. "Jetzt verstehe ich es."

Es geht durch den Garten zu einem Feld voller Dill, Gurken, Rucola, Pak Choi und Erdbeeren. "Das hier ist das Herzstück unserer Arbeit", sagt er und reicht einen Stumpf Bimi zum Abschmecken. "Unser Garten bestimmt das Menü. Wer hier isst, kann schmecken, dass das Gemüse gerade mal zwei Stunden zuvor gepflückt wurde."

Das Essen wird am offenen Kamin zwischen den dicken Mauern des alten Hauses oder draußen unter den mit Lichtern geschmückten Apfelbäumen verzehrt. Die Gäste erzählen von ihrem Tag, und Albert und Sikke erzählen im Wechsel Witze und von den Gerichten: hausgemachtes Brot, Hering mit Paniermehl, Rettichsalat und Rindfleisch mit Pastrami.

Als Köchin hat sich Sikke in ihrer Heimat Finnland einen Namen gemacht. Seit 2001 lebt sie auf der Insel und hat nach und nach die Gebäude von "Nami Namaste" renoviert. Die alte Schmiede ist jetzt eine Sauna, der Schweinestall eine Küche und die Zinndächer sind wieder da. Einst wurden sie von den Sowjets verboten, weil sie ein zu starkes Symbol der lokalen Kultur darstellten. "Viele Leute finden es gut, dass sich jemand um diese alten Gebäude kümmert", sagt Sikke. "Es dauert eine Weile, bis man sich wirklich wie ein Inselbewohner fühlt, aber ich denke, es wird respektiert, was wir tun. Wir sind schließlich eine Gemeinschaft."

Sikke sorgt immer dafür, dass ihre Gäste satt und zufrieden sind, bevor sie mit einem Schlummertrunk in der Hand in ihre Zimmer verschwinden. "Essen ist Teil der Tradition auf Muhu und mit ,Nami Namaste' sind wir jetzt ein Teil davon." Sie beugt sich vor, um Flynn ein Stück Brot zu geben. "Ein Besuch auf Muhu ist wie eine warme Umarmung", sagt sie. "Das macht diese Insel unbezahlbar."

Weitere Erlebnisse auf Muhu ...

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Alle Infos zum Magazin findest du hier.

Text: Amanda Canning / Fotos: Adrienne Pitts

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