KolumneEine Reise zum Ich

© Christine Neder
© Christine Neder

Vielen reicht es nicht mehr, sich im Urlaub nur zu entspannen. Wer etwas Gutes für sich tun möchte, sollte auch die mentale Stärke trainieren. Immer mehr Hotels bieten „Auszeit Retreats“ und „Mind Emotion Balance“-Wochen an. Reisebloggerin Christine Neder aus Berlin hat den Coaching-Reisetrend ausprobiert und kam sich fernab von zu Hause ein großes Stück näher.

Die Räthische Eisenbahn tuckert gemächlich am Schweizer Bergmassiv vorbei. Es ist eine atemberaubende Landschaft und mit jedem Kilometer, den ich mich von meiner Berliner Wohnung entferne, werden die schweren Gedanken leichter. In den letzten vier Jahren habe ich 40 Länder und alle sieben Kontinente gesehen. Das Reisen ist mein Leben, meine Leidenschaft, mein Beruf. Ich bin Weltenbummlerin mit Herz und Seele. Doch wie soll das weiter gehen, wenn erst meine Tochter auf der Welt ist? Das will ich an diesem Wochenende herausfinden.

Am nächsten Morgen treffe ich meinen Coach Thomas in der Hotellobby und wir starten den Tag mit einem Spaziergang durch den Wald. „Weißt du, was an diesem Hotelbogen besonders ist?“, fragt er mich. Ich schüttele den Kopf. „Wenn wir da durchgehen, machen wir einen Zeitsprung und sind im Jahr 2020. Wie sieht dein Leben in einem Jahr aus?“Mit dieser Frage beginnen wir unsere Arbeit. Ja, Coaching ist Arbeit. Es ist mentales Krafttraining. Thomas ist ausgebildeter Bergführer und Psychologe. Er will die Menschen in beiden Bereichen an ihr Ziel bringen – den Gipfel und die Träume im Leben. Die Begriffe Coaching und Persönlichkeitsentwicklung sind gerade in aller Munde. Was bisher nur von Managern und Führungskräften in Anspruch genommen wurde, erobert jetzt auch die Reiseindustrie, denn meistens bringt es wenig, zwischen Lunchbreak und Teamkonferenz einen kurzen Blick auf die großen Fragen zu werfen. Wie erreiche ich mehr Lebensqualität? Fühle ich mich beruflich erfüllt? Stimmt die Work-Life-Balance? Ist das schon alles gewesen oder kommt da noch mehr? Es braucht eine Auszeit vom Alltag, um darauf Antworten zu finden und wie Thomas es passend formuliert: „Wenn man über sich selbst nachdenkt, hilft ein guter Ort und eine zweite Person.

“Die Berge sind perfekt dafür, denn neben diesen Naturgewalten erscheinen die Sorgen und Hindernisse automatisch kleiner. Coaching ist nichts anderes als ein Gespräch auf Augenhöhe mit einer Person, die gut zuhören und die richtigen Fragen stellen kann. In meiner Situation war die richtige Frage, wie ich mir das Leben in einem Jahr vorstelle. Was kann bleiben? Was muss gehen? Wie soll mein Alltag aussehen? Zugegeben, klingt banal, doch wann macht man sich schon einmal ernsthaft darüber Gedanken und bekommt dabei Input von einer neutralen Person? Am besten gelingt das auf einer Reise in eine neue Umgebung mit anderen Einflüssen und Blickwinkeln. Zunehmend mehr Menschen reicht es nicht, im Urlaub nur ein gutes Buch am Pool zu lesen oder Yoga zu machen. Sie wünschen sich neue Denkweisen, ein Gefühl der Veränderung und die Gewissheit, die Zeit für sich genutzt zu haben. Die Themen von Coaching-Reisen gehen von Visionen für die Zukunft über ein erfülltes Berufsleben bis hin zu mehr Selbstbestimmtheit.

Ich habe in den drei Tagen Klarheit über meine Prioritäten gefunden. Das Reisen wird immer ein Teil von mir sein, wenn auch mit Baby weniger. Doch was mich wirklich erfüllt, ist andere zu inspirieren und motivieren, ihren eigenen Weg zu gehen. Nicht nur auf meinem Blog mit Texten. Deswegen habe ich inzwischen selbst eine Ausbildung zum Coach gemacht. Das Wochenende in der Schweiz war daher eine ganz besondere Erfahrung, es war eine Reise zu mir selbst.

Text: Christine Neder, Fotografie: Christine Neder, Lilies-Diary.com

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